Behinderung der Strafverfolgungstar

21.01.2019

Der Staat ist interessiert, dass sich ein Strafverfahren gegen einen Verdächtigen ungehindert abspulen kann. Strafbar macht sich, wer das Verfahren erschwert oder gar vereitelt. Gemäss Art. 305 Abs. 1 Strafgesetzbuch wird bestraft, wer jemanden der Strafverfolgung entzieht. Steht der Täter in so naher Beziehung zum Begünstigten, dass sein Verhalten entschuldbar ist, kann der Richter von einer Bestrafung Umgang nehmen (Abs. 2).

Der Sachverhalt, den es zu beurteilen galt, ist rasch erzählt: Ein Bauarbeiter hatte die üble Gewohnheit, nach der Arbeit mit Kollegen einige Flaschen Bier zu kippen, bevor er mit dem Auto nach Hause fuhr. Wegen Fahrens in alkoholisiertem Zustand wurde er auch schon bestraft. Bei dieser Heimfahrt kam ihm die Polizei (wieder) auf die Spur. Er bat/befahl seiner Frau, gegenüber der Polizei zu behaupten, sie sei gefahren, nicht er; er müsse sonst ins Gefängnis.

Frau deckt Mann

Die Frau tat wie befohlen, nahm die Autofahrt auf sich und deckte ihren Mann.
Das Verfahren gegen den Mann interessiert uns hier nicht weiter, aber das gegen die junge Ehefrau, Mutter eines zweijährigen Sohnes und hochschwanger. Sie stellte sich vor ihren Mann und wollte ihn so der Strafverfolgung entziehen. Damit erfüllte sie den Tatbestand der Begünstigung.

Der Staatsanwalt erhob Anklage. Die drei Frauen und Männer des Landgerichts als erste Instanz hatten kein Erbarmen. Die Ehefrau habe vorsätzlich ein Delikt vertuschen und damit das Funktionieren der Strafrechtspflege vereiteln wollten. Das Schützen des Ehemannes sei nicht entschuldbar. Ins gleiche Horn stiess das Kantonsgericht, legte aber noch ein Scheit drauf. Gerade sie als Mutter müsse daran interessiert sein, dass betrunkene Autofahrer bestraft und aus dem Verkehr gezogen würden. Ihr Verhalten sei geradezu klassisch (!) unentschuld- und unter gar keinen Umständen tolerierbar.

Entschuldbar?

Das Bundesgericht sah die Sache komplett anders. Die Ehefrau sei unter ungeheurem Druck gestanden. Einerseits habe sie nicht lange Zeit zum Überlegen gehabt, und anderseits war die Aussicht, den Mann ins Gefängnis zu „verlieren“ ausgerechnet in der heikelsten und stressigsten Lebensphase einer Frau überhaupt (Schwangerschaft, Niederkunft nächstens, alleinige Betreuung eines zweiten Kleinkindes) so beängstigend gewesen, dass ihre Reaktion verständlich und nachvollziehbar war. Sie habe zwar ein Delikt begangen, aber ihr Verhalten sei absolut entschuldbar gewesen, weshalb keine Bestrafung in Frage käme.

Der Fall zeigt exemplarisch, dass jeder Sachverhalt zwei Seiten hat und man in guten Treuen immer unterschiedlicher Ansicht sein kann. Deshalb bleibt das Ergebnis jedes Straf-, Zivil- oder Verwaltungsverfahrens unvorhersehbar. Die Waage der Justizia kann sich so oder anders senken. Für die Betroffenen heisst das, dass sie immer alle Register ziehen müssen, weil man nie weiss, welches Argument greift und welches eine Niete ist

Dr. Ernst Kistler, Rechtsanwalt und Notar, Brugg